Dilutionen und Potenzen (Dynamisationen)
(Vorwort CHK Bd5)

Von Dr. Samuel Hahnemann, 1838

Eigentliche Dilutionen finden fast nur bei Geschmacks- und Farbe-Gegenständen statt. Eine Auflösung salzhafter oder bitterer Substanzen wird immer unschmackhafter, jemehr ihr Wasser zugemischt wird, endlich fast ganz ohne Geschmack, man mag sie dann schütteln, so viel man wolle – so wird auch eine Auflösung einer Farb-Substanz durch Beimischung mehrern Wassers endlich fast ganz farblos, und bekommt durch alles erdenkliche Schütteln keine erhöhte Farbe.

Dies sind und bleiben wahre Verdünnungen oder Dilutionen, aber keine Dynamisationen.

Homöopathische Dynamisationen sind wahre Erweckungen der in natürlichen Körpern während ihres rohen Zustandes verborgen gelegenen, arzneilichen Eigenschaften, welche dann fast geistig auf unser Leben, das ist, auf unsere empfindende (sensible) und erregbare (irritable) Faser einzuwirken fähig werden. Diese von mir unbekannten Eigenschafts-Entwicklungen (Dynamisationen) roher Natur-Stoffe geschehen, wie ich zuerst gelehrt habe, durch Reiben der trocknen Substanzen im Mörsel, der flüssigen aber durch Schütteln, was nicht weniger eine Reibung ist. Diese Bereitungen können daher nicht mit dem Namen Dilutionen abgefertigt werden, obgleich jedes Präparat dieser Art, um es höher zu potenzieren, d. i. um noch ferner die darin noch verborgen liegenden Arznei-Eigenschaften zu erwecken und zu entwickeln, erst wieder mehr verdünnt werden muss, damit das Reiben oder Schütteln noch tiefer in das Wesen der Arznei-Substanz eingreifen und so auch den feinen Teil der noch tiefer liegenden Arznei-Kräfte freimachen und zu Tage fördern könne, was durch alles Reiben und Schütteln der Substanzen in konzentrierterem Zustande nicht möglich wäre.

Man liest häufig in homöopathischen Büchern, dass Diesem und Jenem in einem angegebenen Krankheits-Falle diese oder jene hohe (Dilution) Dynamisation einer Arznei gar keine Wirkung gezeigt, wohl aber eine niedrige ihm gehörige Dienste geleistet habe -  während andere von höheren mehr Erfolg gesehen. Man untersucht aber nicht, woher der grosse Unterschied bei diesen Erfolgen rühren könne! Wer wehrt dem Verfertiger homöopathischer Arzneien (dies sollte der Homöopath stets selbst sein; er sollte seine Waffen gegen Krankheiten selbst schmieden, selbst schleifen), wer wehrt ihm, dass er, um kräftige Potenzierungen zu erhalten, statt etlicher, nachlässiger Schüttel-Schläge (wodurch wenig mehr als Dilutionen entstehen, was sie doch gar nicht sein sollten) dass er, sage ich, zur Bereitung jeder Potenz dem jedesmaligen Glase, welches 1 Tropfen der niedern Potenz mit 90 Tropfen Weingeist enthält, 10, 20, 50 und mehr starke Stoss-Schläge gebe, etwa gegen einen etwas harten, elastischen Körper geführt!

Die Vervollkommnung unsrer einzigen Heilkunst und das Wohl der Kranken scheint es wohl zu verdienen, dass der Arzt sich die nötige Mühe nehme, seine Arzneien die gehörige, die möglichste Wirksamkeit zu verschaffen.

Dann erhält man schon in der fünfzigsten (die neuern Klüglinge wollen bisher schon über die dreissigste Potenz spotten und behalten sich mit den niedern, wenig entwickelten, massivern Arznei-Bereitungen in hohen Gaben, womit sie aber nicht ausrichten konnten, was unsere Heilkunst vermag) Potenz, wovon jede niedere auch mit gleich vielen Stoss-Schlägen dynamisiert worden, Arzneien von der durchdringendsten Wirksamkeit, so das jedes der damit befeuchteten, feinsten Streu-Kügelchen in vielem Wasser aufgelöst, in kleinen Teilen eingenommen werden kann und muss, um nicht allzuheftige Wirkungen bei empfindlichen Kranken hervorzubringen nicht zu gedenken, dass eine solche Zubereitung dann fast alle im Wesen der Arznei-Substanz verborgen gelegene Eigenschaften entwickelt hatte, die erst so, die erst nur zur Tätigkeit gelangen konnten.
Paris, den 19. Dez. 1838

Quelle: Dr. Samuel Hahnemann, Die chronischen Krankheiten, ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung, Fünfter Teil, Zweite, viel vermehrte und verbesserte Auflage, 1839, Verlag von J. E. Schaub, Vorwort (unveränderter Nachdruck, Haug Vlg. o.J.)

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